Sibylle und die Seherin
Geschichten über Menschen, die die Zukunft vorhersagen können, sogenannte „Seher*innen“, sind aus allen Kulturen überliefert. Ihre übersinnlichen Fähigkeiten machte es ihnen möglich, Ereignisse
zu erahnen oder Sachverhalte zu deuten.
Ihre Weissagungen waren meist ein Rätsel oder ein doppeldeutiges Wortspiel.
Sibylle war eine Prophetin aus dem Vorderen Orient. Ihre Zukunftsvisionen waren spontan, deshalb konnte sie nicht als Orakel befragt werden.
Als eine moderne Variante der Kristallkugel kann der Bildschirm eines Fernsehers oder der Monitor eines Computers interpretiert werden. Ist das Fenster in die andere Welt geöffnet, strömen
Unmengen von Informationen in die Seher*in hinein.
In einer still verharrenden, fast kontemplativen Geisteshaltung, nimmt sie die flimmernden Botschaften in ihr inneres Wesen auf.
Meine „Seherinnen“ verheddern sich in einem Netz aus Videotapes.
Die Bänder stehen für eine Informationsflut, die nicht mehr aufgenommen und nicht reflektiert werden kann.
Aussagen über ihre Einsichten wären vermutlich ebenso doppeldeutig und rätselhaft, wie jene antiken Orakelsprüche.
Meine Plastiken– Gleichmacherei statt Individualität
Die Seherinnen entstanden innerhalb einer Serie von Papier-Skulpturen. Die Vorlage für jede Skulptur war eine Schaufensterpuppe, eine Art Urmutter für die Nachkommen.
Alle Figuren dieser Serie sollten sich in ihrer Grundform ähneln. Diese äußere Ähnlichkeit steht für die Austauschbarkeit des Einzelnen, aber auch für eine gewisse „Stromlinienförmigkeit“.
Die Vorgeschichte der Seherinnen
Als der Rundfunkbeitrag pro Haushalt erhoben wurde statt nach der Anzahl der Personen und Geräte, kaufte ich mir einen Fernseher, vorher hatte ich keinen.
Das Gerät schaltete ich ein, wann ich Zeit zum Sehen hatte und zappte mich durch die Programme. Das hatte den Nachteil, dass ich eine interessante Sendung immer erst entdeckte, wenn diese bereits
angelaufen war. Also besorgte ich mir eine Fernsehzeitung und forstete sie nach ansprechenden Inhalten durch.
Nach einigen Wochen fiel mir auf, wie sehr ich immer mehr meinen Tagesablauf um Dokumentationen und Spielfilme herum plante. Dabei wurden meine Erwartungen von dem Angebot oft nicht
erfüllt.
Mein selbstbestimmtes Leben wurde mir bald wieder wichtiger und ich schaffte das TV-Universum ab, indem ich den Antennenstecker vom Fernseher zog. Es folgte ein DVD-Player mit all seinen
Vorzügen. Ein guter Film mit Lust und ohne Zeitplan an einem Regentag gesehen, ist etwas Wunderbares.
Ausstellung der Finalisten
Aufbau der Skulpturen für die Ausstellung
Gestalten des Mythos
BuG-Rosenheimstiftung
Lohr am Main
September 2021
Inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 18 Abs. 2 MStV ist,
Gerhard Marquard, Josef-Kloo-Str. 1b, 86899 Landsberg am Lech, November 2021
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